Ostsee Umrundung auf dem EuroVelo 10: Teil II
Bernd lebt mit seiner Familie in Deutschland in der Nähe von Aachen und teilt seine täglichen Erlebnisse und hilfreichen Informationen rund ums Radreisen auf seinem Blog www.radreiseglueck.de.
Im Jahr 2019 startet Bernd mit seinem Sohn Tristan (17) die Umrundung der Ostsee auf der 9.000 km langen EuroVelo 10 - Ostseeküsten-Route. Dies ist Teil 2 von Bernds Abenteuern rund um die Ostsee (entdecken Sie Teil 1 hier). Nach 1.980 km auf dem EuroVelo 10 beschließt Bernds Sohn Tristan, die Tour in Rīga zu verlassen. Tief demotiviert muss Bernd eine Entscheidung treffen: Wird er die Tour ebenfalls beenden oder wird er seine Abenteuer rund um die Ostsee fortsetzen?
Begegnungen mit dem Universum
Es ist so schwer, die Tour ohne meinen Radreisepartner Tristan fortzusetzen. Wie betäubt verlasse ich Rīga und muss mich zusammenreißen, mich auf die Straßen zu konzentrieren. Mit seiner guten EuroVelo-Beschilderung ist Estland so das erste Land, in dem ich alleine fahre. Deprimiert suche ich nach einem Zeltplatz in Estlands Sommerhauptstadt Pärnu, aber alles ist hoffnungslos überfüllt. In einem Restaurant schenkt mir das Schicksal ein Treffen mit Kaja und Margus, die mich zum Zelten in ihren Garten einladen. Dankbar nehme ich an und finde mit ihnen und ihrem Sohn Edgar Freunde fürs Leben. Er lädt mich ein, einige Tage in seiner Wohnung in Tallinn zu verbringen. Hier und an anderen Punkten auf der Tour erfahre ich, dass das Universum einem die Dinge, die man so dringend braucht, genau zum richtigen Zeitpunkt schickt. Du musst nur vertrauen!
Dann überwältigen mich die bildschönen Inseln Saaremaa und Hiiumaa auf über 300 km Strecke mit bunter Insekten-, Pflanzen- und Reptilienwelt bei herrlichem Sommerduft. Ringelnattern und Kreuzottern begleiten mich durch Estlands Natur pur. Wenige Tage später lerne ich dann die für mich schönste Stadt der Tour kennen: Tallinn. Modern, mittelalterlich, freundlich. Und ich habe Glück, Edgar lädt mich weiterhin ein, für ein paar Tage in seiner Wohnung zu bleiben, um die Stadt ausgiebiger zu erleben. Dazu gibt es Neuigkeiten aus Deutschland: Ich bin gerade Großvater geworden!
Der Finnische Meerbusen
Entlang beeindruckender Kliffs, Strände und Wasserfälle radle ich den Finnischen Meerbusen mit grandiosem Blick auf die Ostsee entlang. Ich bleibe oft an den denkbar schönsten Stellen in Meeresnähe auf RMK-Campingplätzen, wo Outdoor-Reisende ihre Zelte kostenlos aufstellen dürfen. Wehmütig verlasse ich schließlich Estland und betrete 'Mütterchen Russland' ein zweites Mal über die Grenzstadt Narva. Ivangorod hält mich zunächst mit einer beeindruckenden Festung im Bann. Radfahrer sind in diesem Land wenig willkommen, die Ein- und Ausfahrt nach St. Petersburg mit 5 Millionen Einwohnern ist auf einem Fahrrad ein riskantes Unternehmen. Die Stadt eint Glanz und Gloria Russlands – ein Mega-Kontrast zu den ärmlichen ländlichen Verhältnissen. In keinem Land meiner Tour fühle ich mich so hin- und hergerissen zwischen Faszination und Traurigkeit. Ein wesentlicher Teil meiner Reise besteht darin, Vorurteile zwischen den Kulturen abzubauen, aber in Russland sitzen sie oft so tief, dass es mir nicht immer gelingt. Bevor ich Russland verlasse, lerne ich noch die schöne russische Stadt Wyborg kennen. Leider ist sie, wie fast alles in Russland, weitgehend dem Verfall ausgesetzt.
„I am so happy to be back in European Union!“, begrüße ich an Tag 47 mit Tränen in den Augen den finnischen Grenzbeamten. Der Farbwechsel vom grauen Russland zum farbenfrohen Finnland zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht. Finnen gestalten alles bunt und schön, genau wie die Estländer, bei denen jedes Bushäuschen individuell gestaltet ist. Der Einflussbereich der Finnen ist unverkennbar. Russland war eine Erfahrung, hier wird eine Integration in den EuroVelo sicher am schwierigsten sein. Wer Risiken vermeiden möchte, setzt von Tallinn aus lieber mit der Fähre nach Helsinki über.
Speziell die Wege ab Helsinki sind nun oft wieder wunderschön, die Schärenlandschaft mit ihren Inseln und flachen Steinen lässt mich durch glitzernde Wasserwelten gleiten. Das Auge kann sich kaum sattsehen. Es ist Ende August. Zu meiner Überraschung und meinem Verdruss schließen alle Campingplätze. Zwar gilt in Finnland das Jedermannsrecht, trotzdem fällt es mir schwer, entlang der Küste gute und erlaubte Stellen zu finden. Die Tage werden sehr viel schneller als erwartet kürzer und feuchter, die Morgensonne trocknet das Zelt nicht mehr. So weiche ich ab Mitte September rund um den Bottnischen Meerbusen zunehmend auf Couchsurfing, Warmshowers, B&B und Hostels aus. Der EuroVelo 10 ist hier noch nicht ausgebaut, die stark befahrene Landstraße E8 strapaziert über viele Kilometer meine Nerven, doch ab und zu kann ich zu meiner Erleichterung auf schöne ruhige Nebenstraßen abbiegen.
Der nördlichste Punkt
In Lappland entscheide ich mich traurigen Herzens gegen das Nordkap. Erster Schnee ist für die Täler zum Kap angesagt, die Infrastruktur weitgehend geschlossen. Einheimische raten mir ab. Dieser Traum ist vertagt, schon bald werde ich bei minus 7 Grad in den Tag starten. Die bestätigenden Rufe von Hunderten von Wildgänsen begleiten mich gen Süden, und sie werden von nun an Teil meiner Tour.
Ein Highlight begegnet mir am nördlichsten Punkt meiner Reise trotzdem: Die Netzfischer von Kukkolaforsen, die mit meterlangen Keschern auf wackligen Stegen einen Fisch nach dem anderen aus dem reißenden Fluss fischen. Für kleines Geld erstehe ich die frisch geräucherte Spezialität.
66 Tage sitze ich nun auf dem Rad. Zwar gibt es mit dem Cykelspåret einen Radweg von Haparanda bis Ystad, die Umwege ins Inland sind aber hier in Nord-Schweden oft unverhältnismäßig lang und mit kräftezehrenden Höhenmetern verbunden. So nehme ich immer wieder auch zulässige Abschnitte der doppelspurigen Europastraße in Kauf – inklusive Fahrstress pur. Der Cykelspåret verläuft hingegen landschaftlich wunderschön. Es empfiehlt sich, Tageskilometer-Ziele einfach anzupassen und die oft unbefestigten aber exzellent befahrbaren Wege durch Schwedens Wälder zu genießen. Hörbare Stille inklusive.
Magische Begegnungen auf Radtouren
Die Radreisesaison ist längst beendet. Nicht einen Radfahrer treffe ich mehr auf 1.000 einsamen Kilometern. Da überholt mich ein verrücktes Tandem mit in bunten Eishockey-Trikots gehüllten Radlern. Als wenn es nicht verrückt genug wäre, stehen hinter der nächsten Kuppe zwei Reiseradler. Mit ihnen werde ich die nächsten Tage radeln. Ludvig und Irene, die auf dem Weg von Schweden nach Spanien sind, übernachten mit mir in einer kleinen Märchenhütte. Wir teilen unsere Vorräte und philosophieren über die Welt, die Menschen und das Radfahren. Ich finde enge Freunde mit einer tiefen inneren Verbundenheit.
Entlang alter, niedriger Steinmauern setze ich meinen Weg auf schön geschwungenen Pfaden durch die Herbstsonne in der südschwedischen Region Småland fort. Durch duftende Wälder folge ich kleinen, fast unasphaltierten Straßen über Stockholm nach Südschweden. Plötzlich raubt mir in Ystad ein Geräusch, dessen Abwesenheit ich erst jetzt realisiere, für einen Moment den Atem. Es ist die Brandung der Ostsee, im oberen Schärenbereich der Ostsee schlicht nicht vorhanden. Minutenlang genieße ich das Rauschen und atme die vom Meeresduft erfüllte Luft.
Mit dem Zug überquere ich den Øresund von Malmö nach Dänemark. Meine Devise, in großen Städten einen Rad-Ruhetag einzulegen, werfe ich in Kopenhagen kurzerhand über Bord, denn Radfahren ist hier gleichermaßen Muss und Genuss. An der gesamten Küste Dänemarks verläuft auf ein gutes Radwegenetz mit tollem Ostseeblick, der EuroVelo 10 ist hier wieder gut ausgeschildert. Dauergraues diesiges Regenwetter begleitet mich im letzten Land meiner Tour, die goldenen Herbsttage sind vorüber.
Eines Morgens blicke ich auf den endlosen Horizont der Ostsee. Schlagartig wird mir bewusst, dass ich sie nun beinahe mit dem Rad umfahren habe. All die Mühen, die Schönheit und die intensiven Begegnungen überwältigen mich und Tränen rinnen über meine Wangen, bevor ich meine Reise zur Insel Møn mit ihren beeindruckenden Klippen fortsetzen kann.
Mit über 5.200 € gesammelten Spenden kehre ich am Tag 100 nach Deutschland zurück und radle entlang der deutschen Küste über die Hafenstadt Kiel zurück nach Lübeck, wo ich nach 105 Tagen den Traum meiner Ostsee Umrundung vollende.
"Meine Ostsee. Danke, dass du mehr als ein Vierteljahr lang mein Begleiter auf dem beeindruckenden EuroVelo 10 warst - mit all deiner vielfältigen Natur, deinen freundlichen Menschen und deinen verschiedenen Kulturen". Mir wird klar, dass ich sie wohl für immer mit anderen Augen betrachten werde.
Resumé
Würde ich die Dinge beim nächsten Mal anders machen? Ja - und nein. Es ist eine gute Idee, die Ostsee Umrundung auf dem EuroVelo 10 früher im Jahr zu beginnen. Der obere Teil der Ostsee sollte bis Ende August umfahren sein, bevor die Campingplätze und Cafés in den nördlichen Ländern Finnland und Schweden schließen, und der feuchte Herbst das Campen erschwert.
Wenn ich eine Sache ändern könnte, dann hätte ich alles dafür getan, meinen geliebten Radreisepartner Tristan in Rīga nicht verloren zu haben, obwohl ich unglaublich stolz darauf bin, dass wir zusammen 1.980 km in 5 Ländern geradelt sind. Aber ich weiß die Begegnungen auf meiner Tour sehr zu schätzen, und die Dinge zu ändern, hätte auch bedeutet, diese Begegnungen und Freundschaften zu ändern. Durch mehr als zwei Monate Solo-Radfahren habe ich all seine Vor- und Nachteile kennen gelernt – und bin meinen Dämonen begegnet. Einige von ihnen sind meine Freunde geworden, andere noch nicht. Das gehört zum Fern-Radreisen, und natürlich ist die Intensität umso höher, je länger du unterwegs bist.
Highlights
Es gab unzählige Highlights entlang der Route, einige davon waren die baltische Natur, die wunderbare baltische Küste und die estnischen Inseln, sowie das mittelalterliche Tallinn; die Weite der nordischen Wälder und Schären in Finnland und Schweden, sowie die glitzernden Seen; die hervorragenden Radwege in Dänemark und die Freundlichkeit der Menschen in allen Ländern.
Es ist aber auch möglich, den EuroVelo 10 aufzuteilen und die schönsten Streckenabschnitte Stück für Stück zu erfahren:
- Genieß die erstaunliche Küstenlinie 'Deutschland - Polen'.
- Erkunde die baltischen Staaten, ausgehend von Klaipėda, wohin du mit der Fähre gelangst. Verpasse dabei auf keinen Fall die Kurische Nehrung!
- Erlebe 'Finnland - Dänemark' und die nordische Natur. Du kannst Russland abkürzen, indem du die Fähre vom mittelalterlichen Tallinn nach Helsinki benutzt, und kannst die befahrenen "Europastraßen" in den nördlichen Teilen Finnlands und Schwedens umgehen, indem du die Fähre von Vaasa nach Umeå nimmst.
Für welchen Teil du dich auch entscheidest, sei dir immer bewusst, dass es schwer ist, sich nicht in die Ostsee zu verlieben –sie wird für immer dein Herz erobern!
Folgen Sie Bernd auf Facebook und Instragram.
Autor(en): Bernd Schadowski